Biblisch-politische Thesen - für die Gewinnung einer menschlichen Welt

Biblisch-anthropologische Vorgabe

Der biblischen Urgeschichte zufolge verhält es sich mit dem Menschen und seiner Welt wie folgt:

Bestimmung des Menschen ist es, auf der Grundlage einer Welt, in der gewaltige natürliche Kräfte am Wirken sind, eine besondere Stellung in dieser Welt zu erhalten. Diese wäre dadurch gekennzeichnet, daß er damit infolge aktiver Bemühung um ein stimmiges Verhältnis zurechtkommt.

Dazu gilt es, sich dem Ganzen des als Garten vorgestellten Gegenstandsbereichs menschlicher Erfahrung ("allen Bäumen", Gen 2,16) zu widmen. Auf keinen Fall soll ein Teil davon auf Kosten des restlichen Bestands diesem vorgeordnet werden. Dies geschieht durch das Essen vom "Baum der Erkenntnis von gut und schlecht". Dadurch entstehen willkürliche Maßstäbe von gut und schlecht und dann auch "Gut und Böse", wodurch der Mensch in Gegensatz zum Anderen seiner Welt gerät.

Das glückhafte Verhältnis zu seiner Welt, dem paradiesischen Garten, zerbricht. Denn im Essen vom verbotenen "Baum in der Mitte" (Gen 3,3) macht der Mensch willkürlich etwas anderes als das zum Erhalt seiner Welt Gebotene zu seiner "Mitte". Seine Welt wird un-ganz, weil der Mensch - statt zu dienen (wie Gen 2,15 gefordert) und durch Enthaltung von willkürlichen Maßgaben und Vorgaben den Garten ganz zu bewahren (ihn so zu "hüten", Gen 2,15) - das Gebotene mißachtet.

Dem voraus ging die Selbstbestimmung des Menschen als Mann und die Definition seines als Frau vorgestellten Gegenübers. Dieses Gegenüber definierte er als von ihm bzw. seiner dinglichen Gegebenheit - seinem "Bein und Fleisch" - abgeleitet. Folgerichtig erscheint das Gegenüber der menschlichen Erfahrung dann - entsprechend - "nackt" (Gen 3,7).

Mit dieser herrschaftlichen Bestimmung seines Gegenübers ist verbunden die Selbstdefinition des Menschen; damit zugleich aber die Beschränkung seiner Möglichkeiten und die seiner Welt in deren Sinn. Hinfort ist das Maßstab von Realität, was der Mensch sich willkürlich als ihm gemäß zubemessen hat.

An dieses Eigene bleibt der Mensch (Kain) verhaftet, worin sich der Verlust der paradiesischen Wirklichkeit fortsetzt. Das ist in dem Maß der Fall, wie er sich nicht von diesem Eigenen lösen kann, wie er es nicht (im Opfer, Gen 4,3f.) als Brücke zum Anderen nutzen oder "weihen" kann (wie Noah in Gen 8,20f.).

Wenn diese der biblischen Urgeschichte entnommene Grundbefindlichkeit des Menschen zutrifft, ist es möglich, daraus Maximen und Postulate zu gewinnen, die in eine Richtung weisen, wohin richtige Schritte auf eine menschlichere Welt hin zu machen sind.

1. Forderung: Sensibilität gegenüber dem Anderen. Der Mensch steht seiner Natur nach permanent in der Versuchung, seine Möglichkeiten gegen die seines Gegenübers auszuspielen. Weil er sich und seine Welt so letztlich zerstört, ist auf allen Ebenen ein Bewußtsein dieser verhängnisträchtigen Schwäche zu gewinnen. Gleichzeitig muß ihr durch die Bemühung um eine Kultur der Achtung des Anderen entgegengewirkt werden.

2. Forderung: Gewaltverzicht und Zentralinstanz. Die Achtung des Anderen als Bedingung dafür, sich mit dem Gegenüber des Menschen in der Konsequenz nicht selbst zu verneinen, bedarf eines Verwirklichungsspielraums. Dieser besteht in der Freiheit von Bedrohtheit durch Gewalt. Er entsteht im Verzicht der einzelnen auf willkürliche Gewalt, und er ist zu sichern durch dafür verantwortliche Instanzen. Dem Verzicht auf Gewalt entspricht so die zentrale Verbürgung des Spielraums, der in seiner Beschaffenheit selbst Umsetzung des Gewaltverzichts der einzelnen ist.

3. Forderung: Subsidiarität. Die Delegation der Gewalt der einzelnen, welche damit auf die willkürliche Ausübung derselben verzichten, darf nicht zu einem unkontrollierten Eigenleben von Zentralinstanzen führen, die mit der Sorge fürs Allgemeine eigens betraut wurden. Statt dessen ist permanent auf die Wahrung des Prinzips der Subsidiarität, des helfenden Dienstes am einzelnen und zu dessen bester Entfaltung zu achten.

4. Forderung: Entsprechende Strukturen der Ausübung von Herrschaft bzw. der Entscheidungsfindung. Gewöhnlich verhält es sich so, daß irgend jemand oder irgendeine Gruppe den Hauptanteil an politischer Macht erhält und dann so damit umgeht, daß 1. die Entscheidungen dem Machterhalt dienen und daß 2. in diesem Sinn vernachlässigbare Größen vernachlässigt werden. Neben mehr oder auch weniger guten politischen Absichten und Willenserklärungen beinhaltet dieses Muster politischer Betätigung sehr viel Spielraum für im Grunde willkürliche, nicht eigens verantwortete Entscheidungen und die Vernachlässigung des Bereichs derer, die ihre Stimme nicht selbst erheben können (Natur, Kinder, Unterprivilegierte …).

Gewichtiger Vorteil dieses Modells von Politik in den Demokratien westlicher Prägung ist, daß die verfügbaren Kräfte und bestehenden Möglichkeiten im Sinne mehrheitlich beschlossener Vorgaben effektiv eingesetzt werden. Diese Verklammerung von Demokratie und Effektivität ist nach aller geschichtlichen Erfahrung eine Errungenschaft, die in ihren positiven Zügen nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte.

Trotzdem bedürfen die skizzierten Strukturen politischer Entscheidungsfindung der Ergänzung. Sie sind zu bereichern um einen Faktor, der den jeweils Regierenden eine Instanz an die Seite stellt, deren Aufgabe es ist, "menschliche" Maßstäbe und solche, die das Ganze der menschlichen Lebenswelt betreffen, wirksam anzumahnen. So wäre der jeweiligen exekutiven Gewalt - als dritthöchster Funktion - (das sind die derzeitigen Macher, Chefs, Kanzler etc.) eine Art Tribun als polares Pendant beizugeben. Von dorther wäre das zu vertreten, was naturgemäß außerhalb des Blickwinkels der Pragmatiker liegt und was sich nicht selbst vertreten kann. Eine solche Instanz müßte mit der Autorität ausgestattet sein, Diskussionen und Klärungen problematischer Sachverhalte zu erzwingen, qualitative Maßstäbe anzumahnen, den Finger auf "wunde Punkte" zu legen. Dazu müßte auch das Wirken der Macher blockiert werden können. Eine den beiden gegensätzlichen Funktionen übergeordnete Instanz hätte dann gegebenenfalls zu vermitteln oder im Sinne einer der beiden Parteien zu entscheiden.

5. Forderung: Gesellschaft vor Staat. Als Konsequenz der dritten Forderung hat das gesellschaftliche Leben auf allen seinen Ebenen (Familie, genossenschaftliche und sonstige Zusammenschlüsse) als Zweck des Staates zu gelten. Die staatliche und verwaltungsmäßige Gewalt hat die vielfältigen Möglichkeiten gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Lebensgestaltung zu fördern und bestmögliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

6. Forderung: Position der Frauen stärken. Als Gegenstück zur vierten Forderung an der Basis der Gesellschaft ist eine weltweite Verbesserung der Position der Frauen nötig. Je mündiger die Frauen sind, desto mehr Gewaltpotential wird an der gesellschaftlichen Basis gebunden und neutralisiert, desto weniger Möglichkeit hat die Männerwelt - auf dem Rücken der sie stützenden und bestätigenden Frauen - ihr Aggressionspotential willkürlich auszuleben bzw. gegen jeweilige Gegner zu richten.

7. Forderung. Neubewertung von Eigentum. Ohne Eigenes gäbe es kein Ich, keinen Menschen. Doch hat das Eigene seinen Sinn und Zweck nicht in sich selbst. Wahren Sinn gewinnt es, wenn es zur Brücke zum Anderen, zum "Raum" wird, in dem oder über den wir einander begegnen können. Dies muß auch bei der Bewertung wirtschaftlicher Aspekte bedacht werden. Selbstzweckhafte Anhäufung von Eigentum hat etwas Problematisches. Das gilt ganz besonders von Eigentum an Grund und Boden. Die Erde und der Lebensraum, den sie bietet, ist - im Grunde wie Luft und Wasser - für alles da, was lebt.

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