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Die "Weisheit des Mythos" ist der zweite Teil der Reihe "Bibel und Wissenschaft nähern sich an". Es werden darin Texte aus der Bibel und der nordgermanischen Mythologie interpretiert.

Unverzichtbar für eine sachgerechte Interpretation ist es, genug über die Welt zu wissen, aus der die Texte stammen. Die Koordinaten des Weltverständnisses, wie man es für den ursprünglichen biblischen Leser annehmen kann, wurden in Teil 1 behandelt. Weltbild und Daseinsverständnis der alten Germanen werden in Teil 2,  der "Weisheit des Mythos" (Inhaltsverzeichnis), erschlosssen. Zu dem, wie unser Wunsch nach Erkenntnis vom Mythos profitieren kann, ein wenig im Folgenden.

Von der Weisheit alter Mythen lässt sich eine Menge lernen. Viele Mythen enthalten sogar eine eigene Metaphysik, also eine Lehre über das, was die Dinge verbindet.
Lehrreich sind sie schon aufgrund ihrer Art der Darstellung.

Der heutige Mensch unterwirft alles, was er wahrnimmt, der Messlatte seiner Begriffe, die er sich von der Welt gebildet hat. Wir sind zum Beispiel gewöhnt, bei allem nach Ursache und Wirkung zu fragen. Doch unsere Welt besteht vor allem aus Wechselbeziehungen, die erst das hervorbringen, was uns dann als Ursache und Wirkung erscheint.

Der Mythos hat demgegenüber keine festgelegten Begriffe, nach denen er die Geschehnisse misst. Er schildert den Fluss eines Geschehens in bildhafter Sprache. Dabei bedient er sich, um das darzustellen, was den Erzähler innerlich bewegt,  der äußerlich erfahrenen Realität. Er bildet so deren als bedeutsam erkannte Strukturen in einer Weise ab, dass die äußere Logik mit der inneren übereinstimmt (was aber, ähnlich wie bei Träumen, stellenweise nicht ohne logische Brüche möglich ist). Aus diesem Grund können wir dabei einen neuen Blickpunkt gewinnen. Indem wir uns darauf einstimmen, können uns ungewohnte, neue logische Zusammenhänge "aufgehen". Diese neuen logischen Strukturen scheinen dann gewissermaßen wie ein Wasserzeichen durch beide (äußere und innere Realität) hindurch. 

Das Ergebnis sind Einblicke in eine Komplexität, die uns bei begrifflich orientierter Sichtweise verborgen bleibt. Hieran sieht man, dass die Art, wie wir uns in der Weltbetrachtung einstellen, die Welt in unserer Wahrnehmung verändert. Denn wenn wir mit vorgefertigten Begriffen an das Erfahrene herangehen, bleibt die im anderen Fall erkennbare Komplexität verborgen.

Darauf haben wir auch Einfluss. Aber nur, wenn wir um diesen Zusammenhang wissen. Dann können wir die Messlatte unserer immer nur beschränkt gültigen Begriffe willentlich erst einmal zurückstellen. Wir öffnen uns dem Fluss der Geschehnisse selbst. Dabei hilft die mythische Sprache. (Kunst und Träume leisten auf ihre Weise Vergleichbares.)

Unüberbietbar lehrreich ist dieser Zusammenhang in der biblischen Erzählung von Adam und Eva dargestellt. Adam bedeutet übersetzt "Mensch", und Eva läßt sich wiedergeben mit "Die das Leben hervorbringt und manifestiert". Das Zusammenspiel der beiden gießt die Grundbeschaffenheit der menschlichen Natur in bildhafte Form.

Adam ist in der Erzählung zunächst allein. Er ist geschildert als das Prinzip des Erkennens. Er wendet sich den Dingen zu, erkennt und benennt sie in einem fort, ohne bei einem stehen zu bleiben. Das ist ihm in der Erzählung auch aufgetragen. Er soll dem Begegnenden nicht irgendwelche willkürlichen Einordnungen verpassen. Sondern er soll sich immer wieder neu darauf einstellen, so wie es angemessen ist. Tut er das nicht, gerät er in die Gewalt des Todes. Das ist nach dem Gesagten logisch. Denn wenn er aufhört, sich ständig neu auf die Dinge einzustellen und bei einer Erkenntnis darüber stehenbleibt, dann bleibt auch das, was er der Erzählung zufolge ist und sein soll, sein Leben, stehen. Bildlich gesprochen: er stirbt.

Schließlich hat Adam seine wichtigste Begegnung: die mit der Frau. "Frau" bedeutet hier die objektive Realität des Menschen gegenüber der Dynamik der Erkenntnisbewegung, die mit Adam zunächst gemeint ist. Diese objektive Realität, in der der Mensch sich selbst gegenübertritt, ist nun der Anlaß für den großen Fehler Adams. Er hört auf, sein Gegenüber so zu nehmen, wie es ihm wirklich entspricht. Bei den Begegnungen vorher, als der Abstand zum ihm Begegnenden noch größer war, gab es da noch keine Schwierigkeiten. Jetzt aber definiert er sein Gegenüber von sich aus nach seinem ersten Eindruck davon. Er sagt: "Diese endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch". Er will sich darin gewissermaßen seiner selbst in gewünschter Form habhaft werden. Damit kommt der Motor des menschlichen Lebens ins Stocken.

Eine Menge Unannehmlichkeiten sind die Folge. Zum Beispiel die Schwangerschaft und Geburt unter Schmerzen. Dieses Bild zeichnet sehr treffend, was passiert, wenn wir mit unserem Denken und Wollen hinter dem Anspruch der Realität zurückbleiben. Wir kommen mit der Realität nicht mehr zurecht. Das Verhältnis zu ihr spannt sich, bis zum Schluß der Knoten platzt. Weil "nichts mehr geht", hilft dann nur noch ein kompletter Neubeginn. Das ist wie eine Geburt, und weh tut es auch.

Die Logik dieses Zusammenhangs aufzudecken, ist ein Grundanliegen der biblischen Überlieferungen. Die Erzählung von Kain und Abel entfaltet noch einmal präziser den Aspekt der Drangsal, die so entsteht. Andere Erzählungen behandeln weitere Aspekte dieser Thematik. Bis hin zur Lösung des Problems: wie man mit der Veranlagung des Menschen, sich so zu verhalten, umgehen kann, ohne dass dadurch reaktiv immer neues und immer schlimmeres Verhalten entspringt.

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